Den Verzug im Griff

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Verzug im Griff

„Sie müssen sich das so vorstellen: Die Klammer kommt gekrümmt aus der Maschine, und man kann ihr dabei zusehen, wie sie sich beim Abkühlen gerade zieht“, berichtet Georg Schlöser. „Und das haben wir alles so berechnet!“, fügt er hinzu, und er klingt sehr zufrieden dabei. Zu Recht, denn den nötigen Vorhalt hat er mit Sigmasoft ermittelt, sodass das Werkzeug schon im ersten Anlauf maßhaltige Teile lieferte.

Autoren: Silke Allert, Vanessa Schwittay

Zuerst veröffentlicht in Kunststoffe international 12/2016, Seite 46-48

Georg Schlöser ist Verantwortlicher für Simulation und Prozessentwicklung im Hause F. & G. Hachtel GmbH & Co. KG. Das Familienunternehmen ist nicht nur Spritzgießverarbeiter mit eigenem Werkzeugbau. Vielmehr wird der Kunde durch die Engineering-Abteilung durchgängig bei der Bauteil- und Werkzeugentwicklung unterstützt, und zwar in allen Prozessschritten von der Idee bis zur Fertigung und Analyse. Der Anspruch des Unternehmens ist nichts weniger, als die Herstellung formtreuer Bauteile und auf Anhieb funktionierender Werkzeuge. Hierfür bietet auf der einen Seite die Erfahrung aus über 600 gefertigten Werkzeugen in allen denkbaren Ausführungen ein solides Fundament. Auf der anderen Seite werden modernste Technologien eingesetzt: „Wir durchschauen Technik“ ist nicht umsonst Firmenleitbild, denn allen scheint klar zu sein, dass man zum Erreichen dieses Zieles alle relevanten Prozesse der Bauteilentstehung verstehen und optimieren muss. Möglich wird dies im ersten Schritt durch den Einsatz der Prozesssimulation: Diese erlaubt, den Fertigungsprozess realistisch abzubilden und bereits während der Designphase ein tiefes Prozessverständnis zu erlangen. Maßnahmen zur Prozessoptimierung lassen sich somit schon frühzeitig einführen. Deren Nutzen wird am Ende des Entwicklungsprozesses anhand einer zerstörungsfreien Bauteilprüfung validiert, mittels Computertomographie (CT) auf mittlerweile 5 firmeneigenen Anlagen. Das zahlt sich aus.

 (c) SIGMA Engineering GmbH

Bild 1: Für die Montage der Korbklammer sind die Einbaumaße exakt einzuhalten.

Verzug ist zu erwarten

Zum Beispiel bei der Herstellung der genannten Korbklammer. Um eine problemlose Montage zu gewährleisten müssen die Einbaumaße exakt eingehalten werden. Die Klammern sollen in einem 16-fach-Werkzeug mit Heißkanal hergestellt werden. Die erforderlichen Schieberkerne erschweren die Temperierung (Bild 2). Zum Einsatz kommt ein talkumgefülltes Polypropylen mit hoher Steifigkeit und Formstabilität. Die Geometrie des Bauteils lässt nichts desto trotz starken Verzug erwarten. Will man aufwändige Korrekturschleifen im Werkzeugbau und Trial-and-Error-Versuche beim Anfahren vermeiden, braucht es also ein modernes Simulationstool, das dabei unterstützt, den Spritzgießprozess realitätsnah abzubilden und schon vor der Fertigung des Werkzeugs zu optimieren.

Hachtel hat sich für Sigmasoft Virtual Molding entschieden. Und das aus gutem Grund: Die Simulationssoftware Sigmasoft berücksichtigt nicht nur die Bauteilgeometrie, sondern auch sämtliche Werkzeugkomponenten und den kompletten Fertigungszyklus inklusive aller Nebenzeiten. „Unter Virtual Molding verstehen wir nicht einfach nur die Berechnung des Füllvorgangs. Denn eine vereinfachte Abbildung des Werkzeugs reicht in den meisten Fällen nicht aus für eine realistische Prognose des Temperaturverlaufs im Bauteil und des resultierenden Verzugs.“ erklärt Timo Gebauer, CTO bei der Sigma Engineering GmbH. „Daher errechnen wir die Temperaturen im gesamten Werkzeug. Dabei beziehen wir alle Prozessschritte in die Betrachtung ein, die den Wärmehaushalt des Werkzeugs und damit die Bauteiltemperaturen beeinflussen – und zwar über einen Zeitraum von mehreren Fertigungszyklen, die auch das Aufheizen des Werkzeugs oder Prozessunterbrechungen beinhalten.“ Um die Temperaturverteilung im Werkzeug möglichst exakt vorherzusagen, kann zusätzlich auch die Strömung des Temperiermediums im Kanal berechnet werden. Denn abhängig von den Strömungsvorgängen im Kanal und dessen Geometrie wird dem Werkzeug lokal unterschiedlich viel Wärme entzogen. Bei komplexen Temperiersystemen hat dies einen relevanten Effekt auf die Temperaturen im Werkzeug, den es lohnt zu berücksichtigen.

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Bild 2: Der Heißkanalverteiler und die Schieber erschweren die Temperierung und sind daher in der Simulation unbedingt zu berücksichtigt.

Werkzeug-Hotspots werden in der Füllsimulation nicht gefunden

Für das Korbklammer-Werkzeug bedeutet das konkret, dass sowohl 60 Minuten Aufheizen als auch das Warmfahren über mehrere Zyklen simuliert wurden. Denn erst wenn ein thermisches Gleichgewicht im Werkzeug erreicht ist, werden für die virtuelle Produktion genau die Randbedingungen genutzt, die auch auf der Maschine im Serienprozess vorliegen. Während des Einschwingens wurden auch das Öffnen und Schließen des Werkzeugs, die Bewegungen der Schieberkerne und die Wärmeverluste über die Trennebene realistisch abgebildet. Ebenfalls komplett berücksichtigt wurde der Heißkanalverteiler, der einen erheblichen Wärmeeintrag in das Werkzeug mit sich bringt. Auf dieser Basis wurde im letzten simulierten Zyklus der Einspritzvorgang, d.h. das Ausbreiten der Fließfront in der Kavität, detailliert errechnet. Diese Berechnung beruht nun also auf einer realistischen Verteilung lokaler Werkzeugtemperaturen anstatt auf der Annahme einer homogenen Werkzeugtemperatur. Dabei zeigte sich, dass die ursprünglich geplante Werkzeugtemperierung nicht ausreichte: Die Kerne heizten sich von Zyklus zu Zyklus auf, sodass lokal Temperaturen über 70 °C auftraten, bei einer Soll-Temperatur von 20 °C (Bild 3). Es ist klar, dass sich derart überhitzte Werkzeugbereiche negativ auf die Zykluszeiten auswirken. Und es ist auch klar, dass man diese Schwachstellen der Temperierung mit einer einfachen Füllsimulation nicht erkannt hätte. Anhand der Ergebnisse aus dieser ersten Simulation wurde das Temperierkonzept optimiert. Die beiden Schieberkerne einer Seite wurden jeweils zusammengefasst und können so durch Steigbohrungen intensiver temperiert werden (Bild 4). Hierdurch wird eine wesentlich homogenere Verteilung der Werkzeugtemperaturen erreicht (Bild 5): Die Temperaturen liegen jetzt durchgängig unter 58 °C. Mit dem neuen Temperierkonzept lässt sich die Zykluszeit deutlich reduzieren. Aber nicht nur das: Die Optimierung wirkt sich auch positiv auf die Maßhaltigkeit des Bauteils aus.

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Bild 3: In den Schieberkernen bilden sich Hot Spots mit Temperaturen über 70 °C.

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Bild 4: Temperierkonzepte im Vergleich: links die ursprünglich geplanten Schieber und Temperierkanäle; rechts das optimierte Design mit Steigbohrungen.

Nötigen Vorhalt fundiert berechnen

Mit Sigmasoft ist es möglich, den Verzug des Bauteils zu berechnen. Und auch hier zahlt sich das Prinzip des Virtual Molding aus: Denn bei der Berechnung der lokalen Materialschwindung werden die realistische Temperaturverteilung im Werkzeug und die Abkühlgeschichte des Bauteils berücksichtigt. Die Verzugssimulation umfasst sowohl die Erstarrung unter Formzwang im Werkzeug, als auch die freie Abkühlung nach Entnahme aus der Maschine. Aus dieser „Erstarrungshistorie“ kann man lernen. Zum Beispiel die Tatsache, dass man eine gekrümmte Klammer fertigen muss, um nach Abschluss der Abkühlung die geforderte Maßhaltigkeit zu erlangen. „Mit dem Ergebnis kann man arbeiten.“ sagt Georg Schlöser. „Bei der Korbklammer haben wir anhand der Verzugssimulation den nötigen Vorhalt für das Werkzeug ermittelt. Damit hatten wir maßhaltige Bauteile gleich im ersten Anlauf.“ Die anschließende CT-Analyse der ersten Bauteile bestätigte die Vorausberechnungen. Zeit- und kostenintensive Korrekturschleifen zur Anpassung der Kavitätsgeometrie hat sich Hachtel damit gespart.

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Bild 5: Temperaturverteilungen im Vergleich: links das ursprüngliche Konzept mit deutlichen Hot Spots an den Schieberkernen; rechts gleichmäßige Temperaturen im optimierten Design.

Fazit

Sigmasoft Virtual Molding liefert realistische Temperaturen in Bauteil und Werkzeug. Darauf basierend ist auch eine verlässliche Vorhersage des Verzugs möglich. Der Versuchsstand wird damit auf den Schreibtisch vorverlegt. Das hilft in allen Phasen der Bauteil- und Prozessentwicklung, Fehler zu vermeiden und Ressourcen zu sparen, denn Korrekturschleifen lassen sich in wenigen Stunden am PC durchlaufen. Hachtel ist es damit gelungen, für die Korbklammer ein optimiertes Werkzeug herzustellen, auf dem von Anfang an maßhaltige Bauteile mit optimierter Zykluszeit produziert werden. Das spart Zeit und Geld.

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Bild 6: Die Bauteilgeometrie neigt zum Verzug (unverzogene Geometrie transparent). Mit Sigmasoft kann man diesen beherrschen.