Enge Toleranzen, kurze Entwicklungszeiten

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Enge Toleranzen, kurze Entwicklungszeiten

Erschienen im Magazin: Kunststoffe 12/2014, Seite 40-43

Autoren: Laura Florez, Vanessa Schwittay, and Matt Proske

 

Sigmasoft Virtual Molding liefert fundierte Entscheidungsgrundlagen für die Werkzeug- und Prozessauslegung

Warum sich in endlosen Korrekturschleifen verfangen, wenn sich durch Spritzgießsimulation lange vor Fertigungsbeginn ein abgesichertes Konzept für die Werkzeug- und Prozessauslegung erstellen lässt? Ein virtuelles Spritzgießverfahren, das seit einem Jahr auf dem Markt ist und inzwischen die ersten Bewährungsproben bei Verarbeitern bestanden hat, legt den Grundstein dafür.

 (c) Kalypso Ultra Technologies & Sigma Engineering GmbH

Bild 1. Motorenlagerung aus einem glasfaserverstärkten (30%) PA66. Simuliert wird die Faserorientierung

Auch in der Spritzgießindustrie steigt der Lieferdruck zunehmend. Es bleibt kaum Zeit für Iterationen – ein Werkzeug muss von Anfang an zuverlässig funktionieren. Gleichzeitig steigt jedoch die Komplexität der Komponenten, sodass vorherige Erfahrungen nur begrenzt von Nutzen sind. Ein tiefgehendes Verständnis, wie sich die unterschiedlichen Werkzeugkomponenten gegenseitig beeinflussen, wird deshalb immer wichtiger. Dies gilt auch für Fragen nach der optimalen Konfiguration des Temperiersystems, dem im Einzelfall geeigneten Werkzeugmaterial und einer sicheren Entformung der Bauteile. Die Software „Sigmasoft Virtual Molding“ (Anbieter: Sigma Engineering GmbH, Aachen) funktioniert wie eine virtuelle Spritzgießmaschine, um genau solche Fragen zu beantworten. Heutzutage kann eine Werkzeugkonfiguration ausführlich am Rechner getestet werden, bevor das Werkzeug hergestellt wird. Es ist nicht mehr nötig, erste Trial-and-Error-Versuche abzuwarten, um zu erfahren, ob ein Problem auftritt und korrigiert werden muss. Damit gewinnt der Verarbeiter an Sicherheit, sich in neuen Projekten zu engagieren, und kann zugleich sein Prozessverständnis stärken und neue Kompetenzen aufbauen.

 

Das Verarbeitungskonzept wird im Voraus beurteilt
Sigmasoft Virtual Molding kam mit der K 2013 auf den Markt. Es integriert sämtliche Informationen über das Werkzeug und das zu verarbeitende Material in einer rechnergestützten Analyse und bildet die rheologischen und thermischen Vorgänge des Spritzgießprozesses über mehrere Produktionszyklen ab. Dabei werden alle Systemkomponenten mit ihren physikalischen Eigenschaften betrachtet, sodass die Leistung eines Verarbeitungskonzepts im Voraus bestimmt wird. In traditioneller Herangehensweise legen die Verantwortlichen zunächst ein Bauteil- und Werkzeugkonzept fest, basierend auf vorherigen Erfahrungen und eventuell mit Unterstützung von Füllsimulationen. Anschließend wird das Werkzeug gefertigt und an der Maschine getestet. Damit beginnt in der Regel ein iterativer Prozess, um die Anschnittgröße und die Prozessparameter endgültig festzulegen und mögliche Produktionsfehler zu beheben. Dieser Prozess nimmt unter Umständen mehrere Wochen in Anspruch – und doch entscheidet am Ende häufig der Produktionsdruck, welches Prozessfenster genutzt wird. Dieses liegt nicht selten weit vom optimalen Betriebspunkt des Werkzeugs entfernt.

Das Vorgehen mit Sigmasoft Virtual Molding ist das genaue Gegenteil: Der iterative Prozess findet am Anfang des Auslegungsprozesses statt – bevor das Werkzeug gebaut wird. Mit den heute verfügbaren Simulationsgeschwindigkeiten können innerhalb von zwei bis vier Tagen für ein ganzes
Werkzeug mehrere Auslegungskonzepte und Produktionsbedingungen getestet werden, um die Zusammenhänge zu verstehen und den richtigen Verarbeitungspunkt für ein Bauteil zu finden.

Die ersten Anwender dieser virtuellen Technologie berichten, dass sie auf diese Weise ein „neues Verständnis“ des Spritzgießprozesses erlangt hätten. Dieses Verständnis stärkt die Werkzeugbauer und Verarbeiter und liefert profunde Entscheidungsgrundlagen, die die Auslegung weiterer Werkzeuge für die Zukunft vereinfachen und beschleunigen.

 (c) SIGMA Engineering GmbH

Bild 2. Scherrate und Schmelzetemperatur liegen bei seitlichem Anschnitt (a und c) deutlich höher als bei sternförmigem Anschnitt (b und d)

Das virtuelle Spritzgießen als Kerntechnologie
Die Kalypso Ultra Technologies Inc., mit Sitz in Ottawa, Ohio/USA, ist sowohl auf die Produkt- und Werkzeugentwicklung spezialisiert als auch auf die Prozessoptimierung von Thermoplastanwendungen und Sonderverfahren wie LSR-, Metallund Mikrospritzgießen, unter Anwendung von DMLS (Direktes Metall-Laser-Sintern) und additiver Fertigung, was die Flexibilität der Konstruktion steigert (besonders bei der Integration von konturnahen Kühlungskonzepten). Als Alleinstellungsmerkmal versteht Kalypso ihren umfassenden Ansatz, den gesamten Prozess im Voraus ausführlich zu modellieren und zu verstehen, unter Anwendung fotorealistischer Modelle, 3D- gedruckter Bauteilentwürfe und aussagekräftiger „Full Motion“-Simulationen. Die Ergebnisse fasst das Unternehmen auf Informationsblättern für die Prozesseinrichtung zusammen. Damit ist für den Verarbeiter sichergestellt, dass die Bauteilherstellung reibungslos funktioniert, unabhängig von der Komplexität des Produkts.

Shawn Schnee, Geschäftsführer von Kalypso, ist Kunststoffingenieur mit mehr als 20 Jahren Erfahrung in der Industrie. Nach mehreren Misserfolgen hatte er beschlossen, auf Spritzgießsimulationen zu verzichten und zum Trial-and-Error-Prinzip zurückzukehren. Als er von der virtuellen Sigmasoft-Technologie hörte, überdachte er diese Entscheidung, um der rechnergestützten Analyse eine neue Chance zu geben. Heute ist das virtuelle Spritzgießen eine Kerntechnologie bei Kalypso, die Zusammenhänge zwischen allen Faktoren, die in der Spritzgießverarbeitung eine Rolle spielen, exakt abbilden kann. Auf diese Weise wird der gesamte Prozess über mehrere Zyklen reproduziert und so die Leistungsfähigkeit der vorgesehenen Werkzeugkomponenten in einem Produktionsfenster analysiert – genau wie an der Maschine, aber ohne den Aufwand, das Werkzeug bereits herstellen zu müssen.

Kalypso verwendet Sigmasoft Virtual Molding, um die einzelnen Komponenten eines neuen Werkzeugs auszulegen und aufeinander abzustimmen. Dabei betrachten die Spezialisten des Unternehmens physikalische Eigenschaften, Werkstoffeigenschaften sowie Prozessinteraktionen und berechnen in den Analysen die Zusammenhänge zwischen Kühlkreisläufen, Heißkanalsystem und Thermoelementen voraus. Laut Schnee provoziert die Vernachlässigung einer dieser kritischen Variablen teure Fehler und schwächt die Genauigkeit der rechnerunterstützten Analyse.

 (c) SIGMA Engineering GmbH

Bild 3. Werkzeugwandtemperatur: Bei der Temperierung mit Sprudler treten Hotspots auf (links), die durch konturnahe Temperierung (siehe gegenüberliegende Seite) eliminiert werden können (rechts)

Die Wahl des richtigen Anschnitts
In einem ihrer Projekte war Kalypso damit konfrontiert, ein Bauteil für eine Motorenlagerung aus einem mit 30 % Glasfasern verstärkten PA66 herzustellen (Bild 1). Das Bauteil kennzeichneten kritische Dimensionen in allen fünf Montagelöchern und ungleichmäßige Wanddickensprünge. Da es sich um ein teilkristallines faserverstärktes Material handelt, spielt das Verständnis, wie die Werkzeug- und Prozessauslegung Faserorientierung und Schwindungsverhalten (besonders hinsichtlich der Nachkristallisation) beeinflussen würden, eine entscheidende Rolle. In diesem Fall war die Erfahrung aus vorherigen Anwendungen nur von begrenztem Nutzen. Zunächst gingen die Konstrukteure daran, mit Sigmasoft Virtual Molding das Anschnittkonzept zu optimieren (Bild 2). Die einfachste Lösung sah einen Anspritzpunkt an der Bauteilseite vor, unter Verwendung eines einfachen Sprudlers in der Kernmitte. Bei dieser Variante bildete sich ein großer Druckgradient im Bauteil, wobei die zuerst gefüllten Bereiche unter höherem Druck abkühlen als die zuletzt gefüllten. Da mit zunehmendem Druck auch die Erstarrungstemperatur ansteigt, variierten in diesem Fall entlang des Bauteils auch die thermisch induzierten Spannungen, was zu einer ungleichmäßigen Schwindung führte.
Die Berechnung, auf der diese Erkenntnis fußt, dauerte 15 Minuten. „Mehrere Iterationsschleifen und teure Werkzeugmodifikationen wären ohne die virtuelle Analyse nötig gewesen“, erklärt Shawn Schnee. Als zweite Variante wurde ein sternförmiger Anschnitt untersucht. Die neue Angussgeometrie führte zu einer gleichmäßigen Druckverteilung innerhalb des Bauteils.

 

 (c) SIGMA Engineering GmbH

Bild 4. Layout des neuen Temperierkonzepts mit konturnaher Kühlung in den Kernen. Durch die kürzere Zykluszeit amortisieren sich die höheren Werkzeugkosten sehr schnell

Thermische Auslegung: Wann lohnt sich eine konturnahe Kühlung?
Um darüber hinaus die Effizienz des Produktionsprozesses zu steigern, wurde die maximal auftretende Scherung beider Anschnittvarianten untersucht. Die Ergebnisse sind eindeutig: Ein einzelner Anspritzpunkt bedingt eine höhere Scherung am Anschnitt (Bild 2a), womit auch die Schmelzetemperatur ansteigt (Bild 2c). Dieser Anstieg verlängert zum einen die Zykluszeit, weil die Temperaturdifferenz zwischen Schmelze und Werkzeugwand steigt, und bewirkt zum anderen eine ungleichmäßige Verteilung der thermisch induzierten Spannungen – mit unerwünschten Folgen für das Schwindungsverhalten. Zudem schädigt eine höhere Scherung die Glasfasern und schwächt damit die resultierenden mechanischen Eigenschaften. Mit einer um rund 50 % niedrigeren Scherrate am Anschnitt (Bild2b) ermöglicht die Sternkonfiguration ein breiteres Prozessfenster für das Einspritzprofil. Auch ist die Schererwärmung geringer und es wird insgesamt eine homogenere Temperaturverteilung erzielt (Bild2d).

Nach dieser detaillierten Analyse der Wechselwirkungen während der Füllphase folgte als nächster Schritt die Betrachtung des thermischen Werkzeugverhaltens während der Nachdruck- und Kühlphase. Dazu wurde eine Analyse von 20 aufeinander folgenden Produktionszyklen durchgeführt. Die Planung sah ein Werkzeug mit zwei Kavitäten vor. Ursprünglich sollten diese über einen Sprudler in der Kernmitte gefüllt werden. Die Simulation ergab für dieses Konzept einen starken Temperaturgradienten in den Kavitäten, außerdem bildeten sich „Hotspots“ im Werkzeug (Bild3 links). Dieses Verhalten war zwar vorhersehbar, allerdings waren die Temperaturunterschiede unerwartet hoch. Dies wirkt zum einen in hohem Maß zykluszeitverlängernd, zum anderen steigt der Gradient mit jedem Produktionszyklus weiter an. Zudem gehen die thermisch induzierten Spannungen zu Lasten der Bauteilqualität.

Als Alternative wurde ein Konzept mit einer konturnahen Kühlung im Kern analysiert (Bild 4). Im Ergebnis zeigt sich nicht nur die Eliminierung der „Hotspots“, sondern auch eine sehr gleichmäßige Temperaturverteilung an der Kavitätsoberfläche (Bild 3 rechts). Dadurch konnte die Zykluszeit gegenüber dem ursprünglichen Konzept deutlich verkürzt werden. Die damit einhergehende höhere Produktivität deckte die Extrakosten des Werkzeugkerns mit Spiralkühlung. Die Anwendung eines Systems, das mit größerem technischen und finanziellen Aufwand hergestellt werden muss, lässt sich nur durch den Beweis der Wirtschaftlichkeit rechtfertigen. Sigmasoft Virtual Molding mit seinem ganzheitlichen Ansatz ist für diese Kostenberechnung prädestiniert.

Nach inzwischen mehreren erfolgreichen Projekten war Geschäftsführer Schnee von der zielführenden Herangehensweise des virtuellen Spritzgießens so überzeugt, dass er dieses Verfahren in die Entwicklungsabteilung seines Unternehmens integriert hat. In seinen Worten ermöglicht es dem Anwender, „das Große und Ganze im Blick zu behalten“.